„Am Ende landete man bei Zyklon B!“ – Zwangssterilisation und Euthanasie als Wegbereiter der Schoah

In einem interessanten und sehr aufschlussreichen Vortrag präsentierte Ludwig Hermeler die Ergebnisse seiner medizinhistorischen Promotion zum Thema Euthanasie. Der pensionierte Psychiater zeichnete dabei am Beispiel des psychiatrischen Krankenhauses Bedburg-Hau (Kleve) die Durchführung des staatlich gelenkten Mordes an schutzbedürftigen Patienten von den Ursprüngen bis hin zur Umsetzung nach.

Das Symbol für die Verlegung von Behinderten im Rahmen der Euthanasie-„Aktion T 4“ – die grauen Busse, hier im Mordzentrum Hadamar im heutigen Hessen.

Der Mediziner machte den Schüler:innen der Klasse 10b dabei deutlich, dass die Grundidee, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Menschen mit Behinderung ein „unwertes Leben“ führten, nicht erst zur Zeit des Nationalsozialismus aufgekommen sei. Vielmehr sei schon um die Jahrhundertwende in unterschiedlichen europäischen Ländern die Meinung vertreten worden, dass Menschen mit psychischen oder körperlichen Herausforderungen kein Recht auf körperliche Selbstbestimmung oder gar auf das Leben selber hätten. Diese innerhalb der Psychiatrie durchaus verbreitete Lehrmeinung (vgl. Karl Binding, Alfred Hoche, 1922.) wurde nicht nur mit den hohen Kosten für die Unterbringung der Patienten in den psychiatrischen Kliniken begründet, sondern fand auch eine pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigung in der Überlegung, diese Menschen zu sterilisieren, um so weitere Erbgänge zum Nachteil der Allgemeinheit zu unterbinden. Erst mit der Machtübernahme der NSDAP wurden schließlich diese Überlegungen in staatlich gelenkte Maßnahmen umgesetzt. So hätten sich dann – so stellt Dr. Hermeler fest – im Folgenden die Lehrmeinungen aus der Psychiatrie mit Inhalten der NS-Ideologie vermischt, um ein rassisch höherwertiges Volk zu bilden.

Denkmal der „Grauen Busse“, 2006 für die Opfer der Krankenmorde in der ehemaligen Heilanstalt Weißenau (Ravensburg) errichtet

Aus dieser ideologisch motivierten und wissenschaftlich unhaltbaren Vorstellung heraus, dass Menschen mit Erbkrankheiten als „genetisch mangelhaft“ (Alex J. Kay, S. 31.) galten, legitimierten die Nationalsozialisten 1934 durch das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ die Zwangssterilisation von Menschen mit Krankheiten, von denen die sog. Erbbiologischen Institute oder auch im Folgenden die sog. Erbgesundheitsgerichte annahmen, dass diese erblich seien. Dabei – so stellt es Dr. Hermeler heraus – hätten die Verantwortlichen allenfalls eine feste Überzeugung gehabt, als dass diese modernen Überprüfungen standhielte. So zählten bereits Menschen mit einer Hüftdysplasie, mit einer Körperbehinderung oder sogar Hilfsschüler zu den Opfern dieser staatlichen Zwangsmaßnahme; unter Vormund gestellt, entschieden diese ,Betreuer’ oder die erwähnten Gerichte dann auch gegen den Willen der Person für den schwerwiegenden körperlichen Eingriff, von dem 300.000 Bürger des Deutschen Reiches zur Zeit der NS-Diktatur betroffen waren, wobei ca. 5000 die Operation nicht überlebten (vgl. Alex J. Kay, S. 31.).

Diese billigende Inkaufnahme von Todesfällen wandelte sich dann mit Kriegsbeginn in eine staatliche – wenn auch nicht öffentlich ausgesprochene – Todesdrohung gegen alle schutzbedürftige Patienten; denn mit Hitlers Geheimbefehl zur sog. „Euthanasie“ aus dem Oktober 1939 wandte sich unter dem Deckmantel des Kriegsgeschehens der erbbiologischer Furor der Nationalsozialisten gegen psychiatrischen Krankenhäuser des Reiches. Ziel dieser sog. „Aktion T 4“ war es hierbei auch, Krankenbetten für Kriegsverwundete dauerhaft freizumachen. So kam es schließlich im November 1939 in der mit 2500 Betten größte psychiatrische Klink des Deutschen Reichs, in Bedburg-Hau, zu einem ersten kleineren Abtransport von Kranken in andere Anstalten, bevor dann im März 1940 nach einer umfangreichen Selektion der Patienten mithilfe von Meldebögen 1792 Opfer in die eigens eingerichteten „Mordzentren in Grafeneck und in Brandenburg [an der Havel]“ (Alex J. Kay, S. 46) gebracht wurden. Nach Experimenten mit Medikamenten und mit Erschießungen sowie Probevergasungen sei man – so Dr.  Hermeler – dann schließlich dazu übergegangen, die Patienten mit sog. „Kohlenstoffgas“ zu töten. Doch die schiere Anzahl der Opfer – man schätzt, dass mehr als 70.000 Menschen bis August 1941 so ermordet wurden – stellte die Täter vor so enormen Herausforderungen, die Leichen zu beseitigen, dass in den „Mordzentren“ Verbrennungsöfen in Betrieb genommen wurden, wodurch wegen des Gestanks zumindest einer lokalen Öffentlichkeit das mörderische Tun nicht gänzlich verborgen blieb. Das erzeugte neben anderen Berichten aus den Kliniken Unruhe in der Bevölkerung – verstärkt durch die öffentlichen Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen. Auch wenn im Weiteren die Vergasungen im Rahmen der „Aktion T 4“ eingestellt worden seien, sei – so hebt Dr. Hermeler hervor – dennoch weiter gemordet worden, und zwar beispielsweise durch Medikamente oder durch Vernachlässigung der Patienten: in der psychiatrischen Klinik Hadamar, einem Ort in Hessen, sogar bis zum Kriegsende.

Dr. Hermeler stellte die Forschungsergebnisse seiner Promotion Schüler:innen der Klasse 10b vor.

Die besondere Bedeutung der NS-Euthanasie – so resümiert Dr. Hermeler am Ende – liege darin, dass ohne die Erfahrungen aus der „Aktion T 4“ und besonders aus der Vergasung der Patienten die Umsetzung der Schoah, die Durchführung des Mordes an den „Juden“, nicht möglich gewesen wäre. Denn aus seiner Sicht sei durch die Vergasungen, eingeführt und erprobt, um das Töten effektiver zu machen, eins zwangsläufig gewesen: „Am Ende landete man bei Zyklon B!“

Text und Foto: Stefan Roters.

Literatur:

Karl Binding, Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwertens Lebens. Leipzig 1922.

Kay, Alex J.: Das Reich der Vernichtung. Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordes. Darmstadt (WBG) 2023. 

Nachweis Fotos:

Beitragsbild aus:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hadamar,_Euthanasiecentrum_Hadamar,_bussen.jpg

Bilder vom Denkmal „Graue Busse“ – Heilanstalt Weissenau

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GrauerBusWeissenauNachts1.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GrauerBusWeissenauNachts2.jpg