Zwei ganz besondere Unterrichtsstunden erlebten die Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Prüfungskurse am vergangenen Montag (20. Januar 2020) – auf ihrem Stundenplan: das fürs Abitur relevante Drama „Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe; erzählt, erklärt und erläutert von Schauspielerin Maresa Lühle.
Zunächst berichtet die Mimin davon, dass sie innere Vorbehalte gehabt habe, als sie als festes Ensemble-Mitglied des Wuppertaler Schauspielhauses erfahren habe, dass sie Goethe spielen müsse. Denn Goethe sei immer wahnsinnig textlastig, aber, wenn man anfange, sich mit der Handlung zu beschäftigen, wenn man versuche, den Text auch sinnlich zu begreifen, dann lerne man wie sie Goethe lieben.
Mit der gemeinsamen Text-Erarbeitung im Ensemble habe sich dann für sie die immer drängendere Frage gestellt, wie spiele sie eine solche Frau – mit diesem Schicksal und in dieser verzweifelten Lebenssituation.
Denn Iphigenie, Tochter des Agamemnon und aus dem Geschlecht der von den Göttern verfluchten Tantaliden, lebt – wie die Wahl-Hamburgerin aus der Handlung erzählt – fern ihrer Heimat Griechenland als Flüchtling auf Tauris, dem Wohnort der Taurier, einem Barbaren-Volk, dessen Schicksal vom König Thoas gelenkt wird. Und obwohl sie als Priesterin – durch Keuschheit der Göttin Diana lebenslang verpflichtet – ein nicht unbedeutendes Amt innehat, leidet sie sehr an Heimweh und klagt, dass Thoas, obgleich „ein edler Mann“, sie durch ihr religiöses Amt „in ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest[halte]“ (V.33f).
Auch wenn Iphigenie über sich selbst lamentiere, dass „sich nicht mein Geist hierher“ (V. 6) gewöhne, so erdulde sie doch alles, wie Frau Lühle feststellt. Und ihr sei es gelungen, das Leben auf Tauris besser zu machen; denn sie habe Thoas dazu bewegen können, die Menschenopfer auszusetzen. Und das allein durch ihre Person, durch ihr Wort und durch ihre Überzeugungskraft. Sie sei zwar aus Sicht von Frau Lühle eine nicht so starke Frauenfigur, doch sie sei zäh. Besonders dann, als der Barbaren König ihr einen Heiratsantrag macht, den sie letztendlich mit dem Schicksal ihrer Familie zurückweist. Und wie sehr habe sie dann wieder einen erneuten Tiefschlag ertragen müssen, als Thoas, der in ihren Gründen gegen eine Vermählung mehr als Ausflüchte sieht, anordnet, das Menschopfer für die Göttin Diana wieder einzuführen.
Immer wieder sei ihr bei der Erarbeitung von Text und Handlung deutlich geworden, wie bedacht und geschickt Iphigenie ihre Worte wähle. Denn die Griechin müsse ständig überlegen, wie sie sich aus den heiklen Situationen herauskomme. Und eben eine solche Begebenheit sei eingetreten, als zwei Griechen aufgegriffen worden sind. Die Verhaftung dieser nimmt der Taurer König zum Anlass, von Iphigenie nun ihre althergebrachte Pflicht und damit „ein lang entbehrtes Opfer“ (V. 536) für Diana einzufordern. Dadurch, dass einer dieser beiden Griechen ihr Bruder Orest ist, der aufgrund eines Orakels das Götterbild der Diana von der Insel stehlen soll, sieht sie seine Ankunft zunächst als ein weise zubereitetes Geschenk der Götter (vgl. V. 1104) und damit als eine mögliche Wendung ihres Schicksals. Aber als mit Orests Begleiter, ihrem Cousin Pylades, ein Fluchtplan geschmiedet wird, in dem sie Thoas eine Lüge zum Gelingen der Flucht auftischen muss, erkennt sie darin für sich letztlich nicht die Befreiung, sondern eher die fatale Folge der Lüge: „Soll/Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen/Sich wieder erheben?“ (V. 1694f).
So zeige auch das letzte Zwiegespräch mit Thoas, in dem sie ihm Flucht, Plan und Lüge gesteht, welch ausgeprägte innere Gewissheit Iphigenie in sich trage, dass sie meint, diese Situation mit einem Geständnis zum Guten wenden zu können. Dabei falle auf – so die ehemalige Georgianerin -, dass sie Thoas zum Einlenken bewegen könne. Denn durch ihre Offenbarung lege sie ihr Schicksal und das ihrer Verwandten allein in seine Hände. Dadurch sage sie ihm: Ich respektiere dich so sehr, ich liebe dich fast wie ein Vater; ich möchte von dir, dass du uns in Frieden ziehen lässt. Und Thoas habe schlussendlich erkannt, was für eine besondere Frau Iphigenie sei, dass er den Griechen überraschend die Rückkehr in die Heimat gewährt.
Trotz aller Textanalyse – so die gebürtige Emsbürenerin – gehe es bei einem Theaterbesuch vorwiegend um Sinnlichkeit und um die Frage, was das mit einem zu tun habe. Und wenn das Drama an sich auch zeitlos sei, weil es sich um Liebe und Wahrheit, Schuld und Sühne sowie Selbstbestimmung drehe, habe sich dennoch auch für das Wuppertaler Ensemble die wichtige Frage gestellt, ob man das Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“ in der Inszenierung zeitlich verorten dürfe. Obwohl einige Regisseure das strikt verneinen würden, habe sich der Regisseur Alexander Schilling in der Produktion aus der Spielzeit 2008/2009 entschieden, einen Aktualitätsbezug herzustellen. Zunächst sei der Ort vom ,Hain vor Dianens Tempel‘ in eine Art Fabrik verlegt worden, an deren Wände Projektionen auf Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, verwiesen. Thoas, ja eigentlich ein Barbar, d.h. der griechischen, sprich Iphigenies Sprache nicht mächtig, habe in einer neuen Sprache, einer Art Denglish, gesprochen, die sie als Iphigenie auch habe lernen müssen. Auch die Kostüme seien eigenwillig gewesen; so habe sie im Hemdchen als Symbol der Verletzlichkeit, in Springerstiefeln als etwas Militantes und mit einem Tutu, einem Zeichen für Reinheit, auftreten müssen. Aus der Rückschau betrachtet, würde Frau Lühle heute ihre Rolle anders spielen: so zum Beispiel Iphigenie nicht als launischen Teenie und lieber – wie in den Proben – in einem schlichten Kleid.
Mit dem interessanten Vortrag und durch die zum Teil angeregte Diskussion wurde den anwesenden Oberstufenschülern deutlich, dass sich eine Aktualisierung des Stücks wie durch die ,Modernisierung‘ von Ort, Sprache und Figuren letztlich immer einem unterordnen muss, nämlich das Schauspiel für den Zuschauer auch begreifbar zu machen. Denn das Spiel eines Dramas – das hat die Veranstaltung mit der engagierten und leidenschaftlichen Schauspielerin gezeigt – ist sehr viel mehr als nur die sprachliche Wiedergabe des Textes.
Text und Fotos: Stefan Roters.