„Kinder lernen heute aufgrund völlig anderer Hirnvernetzungen anders als frühere Generationen“, lautet die These, die Struck aufgrund lernpsychologischer Erkenntnisse der Hirnforscher ausführlich belegte und veranschaulichte. Zudem lernten Mädchen anders als Jungen und Kinder anders als Jugendliche. Auf die neuen Herausforderungen nach dem „Pisa-Schock“ im Jahre 2001 ging er hinsichtlich der Individualisierung, Rhythmisierung und jahrgangsübergreifenden Lernfamilien ein. Zudem plädierte er für flexible Eingangsphasen auf dem Weg zur gebundenen Ganztagsschule.
Schule heute mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen
„Da sich das Leben verändert hat, ist Schule heute weit mehr als nur Lesen, Schreiben, Rechnen. In Zeiten von multimedialen Kinderzimmern wissen die Hirnforscher, was beim Lernen im Kopf eines Schülers passiert, und deshalb müssen Schulen heute anders geplant und gebaut werden“, erklärte der Fachmann. So werde nach dem Vorbild der schweizer „Primaria-Schule“ im Kanton St. Gallen das gesamte Schulsystem reformiert. Altersübergreifend werde unterrichtet, die Schüler lernen „permanent mit einem enormen Ernst und gewissenhaft mit und vor allem voneinander. Partnerarbeit, Lernen durch Handeln, Ausprobieren, Aussprechen, Präsentieren, Rollen- und Theaterspiel, Chorsprechen, Bewegung und über sogenannte Dritte sind die Bausteine, die laut Struck das vernetzte Denken fördern.
Mehr Freude am Lernen
Die Lehrerbelastung im „Raubtierkäfig Schule“ schwinde, die Freude am Lehren und selbständigen Lernen wachse. Vor allem die Ganztagsschule eröffne Möglichkeiten für neue Teamwelten, und Struck lobte die „außerordentlich leistungsstarken deutschen Schulen“ für ihr schülerorientiertes Lernen.
Die leidigen Hausaufgaben brauche es nicht mehr, denn Schüler bewältigen ihre individuellen Lehrpläne mittels Wochenplan, Logbüchern oder Pensenheften, dokumentieren ihre Ergebnisse im Portfolio. Somit werden persönliche Stärken aufgebaut, Schwächen abgetragen. „Es geht im Spannungsfeld bei der Arbeit mit Kindern auch darum, die Freiheit beim Lernen zu erhöhen – ohne jedoch die Verantwortung und Kontrolle auf beiden Seiten zu vernachlässigen.“
Noten erst ab 14. Lebensjahr?
Lernen benötige dabei Zeit für Übungs- und Anwendungsphasen, eine Rhythmisierung von Anspannung und Entspannung. Die 45 oder 90-minütigen Schulstunden seien dabei nicht förderlich. Ebensowenig Noten, die aber ab dem 14. Lebensjahr gegeben werden müssen. Gibt man sie zu früh, lernen Kinder für die Noten, nicht für die Sache. „Es muss aber mehr Wert auf das Können als auf das Wissen gelegt werden“, betonte Struck auch im Hinblick auf den Standort Deutschland.
Zudem sprach er sich für eine Einschulung bereits im fünften Lebensjahr aus, um frühzeitig das Selbstwertgefühl der Kinder zu festigen und zu steigern. Die gemeinsam gesprochene Erkenntnis des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget lautete nach drei Stunden abschließend: „Alles, was einem beigebracht wird, hat den Nachteil, dass man nicht mehr selbst drauf kommen kann.“
Zur Sache:
Struck – Kritiker des deutschen Schulsystems
Peter Struck, geboren 1942 in Hamburg, hat dort an der Universität seit 1979 eine Professur für Erziehungswissenschaften.
Struck hat Pädagogik, Biologie und Kriminologie studiert, war zehn Jahre Volks- und Realschullehrer und vier Jahre Schulgestalter in der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung. Seit 1979 hat er eine Professur für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Sozial- und Schulpädagogik, Bildungspolitik, Jugendforschung, Familienerziehung und Medienpädagogik.
Struck hat mehrere populäre Bücher verfasst, in denen er Schulen verfehlte Ausrichtungen vorwirft. So bekämpft er das Fachlehrerprinzip und fordert den sozial engagierten Klassenlehrer, der auch etwas von Ernährung, Bewegung, Verhaltensstörungen, Gewalt- und Suchtprävention sowie Medienerziehung versteht.
Mit Verweis auf Ergebnisse der Hirnforschung fordert er eine Lernkultur, die berücksichtigt, dass Kinder am besten zu zweit lernen.
Kinder lernen laut Struck besser durch eigenes Handeln und Sprechen als durch Zuhören. Nötig sei auch eine andere Fehlerkultur, da Kinder über Um- und Irrwege lernen. Noten sollen erst ältere Schüler erhalten. Die Informationsvermittlung könne dabei den Neuen Medien anvertraut werden, dafür könnten mehr Projektarbeit und Förderung von Sozialkompetenz geleistet werden.
Von: Johannes Franke
Lingener Tagespost vom 21. August 2017